Für das Medienkunstprojekt Megapixel haben drei Hildesheimer mit kleinen Kameras ihren Alltag fotografisch protokolliert. Darüber haben die Autoren Heinz Helle, Lucy Fricke und Jakob Nolte einen Text geschrieben. Und darüber hat Heinz Helle wiederum einen Text geschrieben.
Mein Ego lachte. Hildesheimer Medien-Künstler wollen einen Text von mir. Weil sie mein Buch mögen. Meinen Umgang mit dem Ich. Mit irgendwelchen Bildern sollte er zu tun haben, die irgendwelche Kameras an der Kleidung von irgendwelchen Hildesheimern machen würden. Einen Tag lang, alle dreißig Sekunden. Natürlich habe ich zugesagt, es gab schließlich Geld, und irgendwie interessant fand ich das auch, schließlich bin ich ja von Berufs wegen kulturell interessiert und irgendwie auch noch ein bisschen jung, also betrifft mich dieses ganze Internet-Transparenz-Digitalisierungs-Ding auch.
Das erste Skype-Gespräch mit den Künstlern war sehr freundlich und entspannt, und ich hatte ja auch noch ein paar Wochen Zeit bis zur Abgabe.
Ein paar Wochen später fing ich dann an. Immer noch motiviert von meinem Stolz darüber, gefragt worden zu sein, etwas zu schreiben, weil ich dafür anscheinend gut geeignet bin, setzte ich mich an meinen Schreibtisch und öffnete einen Ordner mit 1586 Fotos. Ich tat das mit einer merkwürdigen Routine, merkwürdig deshalb, weil ich so etwas ja noch nie gemacht hatte, aber weil ich gefragt worden war, weil ich geeignet schien, fühlte ich mich, als wäre das eine ganz normale Aufgabe, eine schwere Aufgabe, ja, aber eine lösbare, für mich, denn ich bin ja dafür geeignet, und es sind zwar 1586 Fotos, aber ich fange jetzt einfach mal an und mache meinen verdammten Job.
Kaum saß ich an meinem Schreibtisch, hatte ich auch schon eine Idee. Der letzte Satz würde lauten: Ich bin eine Kamera. Wie geil ist das denn? Hallo? Ich schreibe einen Text aus der Perspektive einer Kamera! Über Bilder, die diese Kamera gemacht hat. Und zwar schreibe ich ihn mit einer gewissen hintersinnigen Ambivalenz, ihr wisst schon, so eine schlaue, subtile Ambivalenz, die einen nicht sofort darauf kommen lässt, dass da eine Kamera spricht, sondern die ab und zu auch die Möglichkeit zulässt, dass es einfach ein etwas kalter, wortkarger Mensch ist. Und erst beim letzten Satz würde man denken: Ach so! Der ist eine Kamera! Wie geil ist das denn? Hallo?
Ich sah also ein Bild nach dem anderen kurz an und schrieb schnell auf, was ich sah, aber natürlich nicht direkt, nicht eins zu eins, sondern ziemlich ambivalent. Bei manchen Bildern schrieb ich nur ein Wort, bei anderen einen Satz, je nachdem, was mir gerade einfiel. So ging es voran, Bild um Bild, Wort um Wort, Satz um Satz. Klar, strukturiert, effizient. Routiniert. Ein Profi eben. Nach 150 Bildern wurde ich müde und ging ins Bett.
Am nächsten Abend schrieb ich nur noch etwas zu ungefähr jedem zehnten Bild, mittlerweile völlig frei assoziierend, aber natürlich immer noch von den Bildern ausgehend, wie automatisches Schreiben mit den Augen. Ich hatte nun etwa zehn Seiten Text, das musste reichen, also fing ich an, den Text zu bearbeiten. Ich schloss Lücken, feilte an Sätzen, an Übergängen, am Rhythmus. Irgendwann war er fertig, und ich dachte, die Bilder füge ich später ein, ich habe ja noch ein paar Tage.
Ein paar Tage später wollte ich die Bilder einfügen. Erstaunt stellte ich fest, dass ein Text, der Bilder beschreibt, nicht besser wird, wenn man die Bilder, die er beschreibt, in ihn einfügt. Erstaunt deshalb, weil diese Erkenntnis so banal ist. Ich konnte es nicht fassen, dass ich mich im Glauben an meine Eignung für diese Aufgabe derart verloren hatte, dass ich ihr Grundprinzip, die Interaktion von Bild und Text, einfach vergessen konnte.
Ich hatte völligen Schrott produziert. Mein Ego ging langsam ins Nebenzimmer. Geschockt rief ich in Hildesheim an. Die waren entspannt, sagten, ich hätte noch Zeit.
Also warf ich alles weg. Und machte alles noch einmal neu. Ich sah noch einmal hin, länger, vorsichtiger, genauer. Ich streifte kreuz und quer durch die Bilder, ich wählte einzelne aus, die mir gefielen. Ich sah mir die ausgewählten Bilder an, bis ich das Gefühl hatte, ich hätte etwas gefunden, das sie verbindet. Irgendeine Klammer, ein wiederkehrendes Motiv, einen Rahmen, der es ermöglichen würde, sie in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Eine Arbeitshypothese zur Erzeugung von Bedeutung. Einen Blickwinkel. Eine Stimme. Ein Ich.
Dann fing ich an zu schreiben.
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Johanna Baschke / Megapixel Hildesheim