Ein Gespräch mit Ariane Koch, Ozi Ozar, Akın E. Şipal und Anna-Katharina Müller
Anna-Katharina Müller: Liebe Ariane, lieber Akın, dear Ozi – wie schön, euch zu sehen!
Als wir im Team das Thema Kipppunkte für unser diesjähriges Magazin festgelegt haben, fiel mir das sehr wichtige Buch Die mutigen Frauen Irans 1 nochmal in die Hände. 15 Frauen bekommen dort eine Stimme und erzählen ihre Geschichten aus dem Exil oder aus dem Iran, teilweise aus dem Gefängnis heraus, und berichten, wie ihr Leben ohne Rechte innerhalb von extremen patriarchalen Strukturen stattfindet – oder eben nicht stattfindet. Diese Geschichten haben mich sehr berührt. Es war schnell klar: Wir müssen unbedingt über den Iran, über Revolution als politischen und gesellschaftlichen Kipppunkt und über unterdrückte Körper sprechen.
Ich versuche mal, in dieses Thema einen Einstieg zu finden: Was macht aus eurer Perspektive eine Revolution zur Revolution?
Ozi Ozar: Für mich sprechen wir von einer Revolution, wenn sie es schafft, verschiedene gesellschaftliche Gruppen zusammenzubringen, und die Menschen in Gespräche über das verhandelte Thema kommen – völlig egal, was dabei herauskommt. Der Moment, in dem Menschen sich darauf verständigen, dass sie über etwas sprechen müssen: Das ist für mich eine Revolution. Sie muss nicht unbedingt etwas Positives sein. Wir haben in der
Geschichte oft genug erlebt, dass sich Revolutionen immer wiederholen. Deshalb ist für mich auch der Moment so wichtig, in dem sich Menschen, die gemeinsam in einer Gesellschaft leben, kollektiv darauf verständigen, dass sie zusammenkommen und diskutieren müssen.
Akın E. Şipal: Ich würde sagen, es ist wie eine fundamentale Irritation des Systems, das sich auf einem anderen Level neu sortiert. Da bin ich Ozis Meinung, dass das nicht unbedingt gut sein muss oder die folgende Situation besser ist als die vorige. Für mich ist eine Revolution da, wenn die Dinge nach einer neuen Ordnung verlangen. Auch wenn Menschen dabei leiden müssen. Natürlich gibt es die Chance, dass sich eine Situation zum Besseren wendet, aber das weiß man eben nicht im Vorfeld. Doch es kann diese eine Gelegenheit geben, wo Licht hereinkommt, bei der alles möglich erscheint, vielleicht auch nur für einen sehr kurzen Moment. Dann gerinnen die Dinge wieder und sie verfestigen sich – oder eben nicht.
Ariane Koch: Das Bild des Gerinnungsprozesses gefällt mir sehr. Etwas ist in Bewegung geraten, ist vielleicht sogar im freien Fall – und damit offen zur Neu-Definition, zur Neu-Gerinnung. Das gelingende Aufbrechen bestimmter Konnotationen würde ich demnach als Revolutionsmoment beschreiben. Dabei denke ich, dass Revolutionen im Grunde immer von der Ungleichbehandlung bestimmter Körper herrühren, meistens von den Körpern, die am verwundbarsten sind. Oder auch von dort, wo Körper objektiviert werden und keine handelnden
Subjekte sein dürfen. Wie Ozi gesagt hat, gibt es dabei ein stark verbindendes Element zwischen den Körpern, die aufbegehren. Wahrscheinlich kann der Begriff Revolution auch helfen, um die vielen, teilweise auch individuellen Handlungen zu kollektivieren und das Verbindende zu betonen.
Anna-Katharina Müller: In den westlichen Medien wird die Situation im Iran sehr häufig als Revolution
beschrieben. Seit nunmehr 44 Jahren ist diese religiös legitimierte Diktatur im Iran an der Macht. Der gewaltsame Tod von Jina Mahsa Amini löste im Herbst 2022 große Proteste im Iran aus, auf offener Straße – das war bis dahin unvorstellbar.
Ozi, du lebst seit 2019 im Exil in Deutschland und bist, neben deiner Tätigkeit als Dramaturg:in, als Aktivist:in bei der Bewegung Frau* Leben Freiheit sehr engagiert. Du hast viele Interviews direkt nach dem Aufkommen der Proteste gegeben, warst medial präsent, auf Demos und nutzt deine privaten Social-Media-Kanäle für Aufklärung
und Informationen. Hier in Deutschland ist die Berichterstattung schon wieder aus dem Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Wir hören nicht mehr allzu viel aus dem Iran, wenn wir uns nicht aktiv um Informationen bemühen.
Ozi Ozar: Ich führe gefühlt mindestens zwei Parallelleben. Eins mit meiner iranischen Community, wo wir Fragen um Begriffsdefinitionen diskutieren und ob all das wirklich eine Revolution ist, etwas Aufbegehrendes oder eine Revolte. Alle haben da unterschiedliche Auffassungen. Und es gibt eben meine »Kartoffel-Community«, in der wir uns viel grundsätzlicher unterhalten müssen, weil vieles nicht bekannt ist. Es gibt also diese zwei völlig unterschiedlichen Diskurse auf komplett unterschiedlichen Ebenen. Das ist auch absolut in Ordnung. Wenn ich aber mit einem:einer Journalist:in spreche, die:der noch nie etwas über Frau* Leben Freiheit gehört hat, der:die aber einen Bericht im Fernsehen über den Iran macht, dann werde ich wütend. Aber es zeigt sehr deutlich, dass der Iran nicht für alle die gleiche Rolle spielt. Das sind schwierige Momente für mich, denn gleichzeitig muss ich immer wieder mit Menschen diskutieren, dass man den Namen Mahsa Amini nicht nutzen sollte, weil es ein kolonialer Name ist. Die Menschen wurden gezwungen, einen nichtkurdischen Namen anzunehmen. Die Unterdrückung der Menschen wird also kontinuierlich fortgesetzt.
Der Grund, warum ich angefangen habe, meine Social-Media-Plattformen so viel zu nutzen, ist, dass, aus meiner Perspektive, von den Iraner:innen, und zwar besonders von denen, die im Exil leben, vernachlässigt wurde, die eigenen Themen innerhalb des Landes zu diskutieren, über Nationalismus, Flaggen usw. Dafür keine Medien zur Verfügung zu haben, macht das natürlich noch komplizierter. Umso wichtiger ist es, dass Individuen sich mit diesen Themen wirklich auseinandersetzen, und zwar nicht nur für die eigene Community, sondern auch für alle anderen, um zu informieren, was passiert.
Anna-Katharina Müller: Wie nimmst du die letzten Monate wahr, vielleicht auch in der Entwicklung bis heute?
Ozi Ozar: In den letzten 11 Monaten haben sich viele neue Grassroot-Bewegungen gebildet. Für die iranische Community ist das sehr ungewöhnlich, vor allem mit unterschiedlichen oder sogar gegensätzlichen Meinungen zusammenzukommen, um sich zu organisieren und Menschen zu mobilisieren, Petitionen zu starten usw. und so politischen Druck auszuüben. Jetzt ist der Mord an Jina Amini fast ein Jahr her. Ich beobachte, dass viele dieser Grassroot-Organisationen verschwinden oder zerstört werden. Dafür gibt es viele Gründe, vor allem natürlich die Enttäuschung über globale Politiker:innen und die Regierungen. Viele Aktivist:innen und normale Menschen ziehen sich wieder in ihr Leben zurück. Das bricht mir natürlich das Herz. Dennoch, das Gute ist, dass wir mitbekommen, dass viele Familien und Menschen im Iran, die an Ideologien glaubten, die Menschen unterdrücken, diesen Glauben verlieren. Es finden Revolutionen in den Köpfen der Menschen statt. Die Muster von Unterdrückung und das Erkennen dieser offenbaren sich und setzen den Willen frei, erstere zu durchbrechen. Und natürlich brachten die letzten Monate auch einfach die Menschen zusammen, um über politische Themen zu sprechen. Man war quasi gezwungen, zu reden – und das ist etwas absolut Positives.
Anna-Katharina Müller: Und, Ozi, was ist es nun: ein Protest, eine Bewegung, sogar eine demokratische Bewegung, oder eine Revolution? Gar eine feministische Revolution?
Ozi Ozar: Ich würde sagen, am Anfang war es eine Revolte, und nach dem allgemeinen Verständnis davon, was eine feministische Revolution bedeutet, war es auch eine feministische Revolution. But you cannot kickstart a dead horse – wenn du in dieser Community steckst, wenn du in einem Land lebst, wo das Patriarchat einfach überall ist, im Gesetz, in der Religion und in den falsch gebildeten Köpfen der Menschen … Das Patriarchat wird sein Bestes tun, um die Revolution zu übernehmen, und es wird bis zu einem gewissen Grad erfolgreich sein. Das Motto Frau* Leben Freiheit, das von den kurdischen Frauen-Freiheits-Bewegungen kommt, gab den Menschen im Iran die Gelegenheit, im Kampf gegen diese Struktur Hoffnung zu schöpfen. Ich persönlich denke nicht, dass es eine feministische Revolution war, und man müsste hier auch zwischen dem westlichen und dem östlichen Verständnis von Feminismus unterscheiden. Es war und ist vor allem keine weiße feministische Revolution.
Anna-Katharina Müller: Inwieweit spielt in eurem Schreiben die Umkehr vom Gewöhnlichen, Gängigen, Vorher-nicht-Dagewesenen, eine Rolle? Was interessiert euch an der ›Gegen-Erzählung‹, wie Donna Haraway es beschreibt – also die Perspektive auf das Gegenwärtige zu modifizieren?
Akın E. Şipal: In meinem aktuellen Stück, Akıns Traum vom Osmanischen Reich, interessiere ich mich für das Osmanische Reich und besonders für die 100 Jahre, die das »Sultanat der Frauen« genannt werden. Es ist eine Zeitspanne, in der die Mütter der Sultane stark in die Politik involviert waren. Sie hatten sogar mehr Macht als ihre Söhne. Die Sultane hatten viele Freiheiten, haben sich aber nur selten in der Öffentlichkeit gezeigt. Sie waren irgendwie auch in ihren Palästen gefangen. Sie haben sich sehr stark mit dem Römischen Reich identifiziert und sich als römische Herrscher gefühlt. Die Mütter und Konkubinen waren im Palast weggeschlossen. Es ist sehr interessant, wie sich diese hermetische Käfigsituation entwickelt hat – die absolute Ohnmacht, im Harem gefangen zu sein. Die Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem war sehr wichtig, aber die Frauen haben bemerkt, dass die Trennung nicht luftdicht ist, sondern eher ein Saum. Sie haben angefangen, indirekt über Botinnen Politik zu machen. Die Machtfülle der Männer führte in eine Introspektive: Selim II. trank viel und sein Sohn Murat beschäftigte sich mit Mystik und ging im eigenen Garten spazieren. Sie hatten keinerlei Interesse am Draußen. Das ist ein subversiver Shift und hat etwas Dialektisches. Ich wollte ein eklektizistisches, ein buntes Stück schreiben – etwas Widersprüchliches, das sich nicht so einfach von einer Richtung vereinnahmen lässt.
Ariane Koch: Die ›Gegen-Erzählung‹ ist die treibende Kraft in meinem Schreiben. Dabei ist für mich auch jeweils wichtig, wie erzählt wird. In meinem Roman Die Aufdrängung habe ich beispielsweise gehofft, dass durch eine Erzählung über einen Gast und über Ungastlichkeit neue Perspektiven auf den problematischen gesellschaftlichen Umgang mit dem Unbekannten sichtbar gemacht werden können, ohne das aufgeladene Vokabular rund um die Migrationsdebatte zu reproduzieren. In meinem neuen Stück, Kranke Hunde, versuche ich wiederum Ungleichbehandlungen kranker Körper zu thematisieren. Ausgangspunkt war für mich der Sexismus und Rassismus in der Medizin, der eine lange historische Tradition hat. Im Weiteren geht es mir dort aber auch darum, die Erzählgewalt über meine eigene Krankheitsgeschichte zurückzugewinnen oder zumindest zu vervielfältigen. Im Krankenhaus wird ja mit einem sehr engen, medizinischen Vokabular hantiert. Das zeigt sich schon dadurch, dass Schmerzen auf einer Skala von 1 bis 10 ausgedrückt werden müssen. Das macht sozusagen das Narrativ des Schmerzes sehr klein. Und diese Abwesenheit der differenzierten Sprache, vielleicht auch der literarischen Sprache, war es, die mich sozusagen ins Schreiben darüber gedrängt hat.
Anna-Katharina Müller: Paul Preciado, einer der Vordenker:innen der Gender Studies und der Philosophie des Körpers, hat mal in einem Beitrag für das Online-Magazin Mediapart von der »Revolutionshypothese« geschrieben: Entweder wir akzeptieren entgegengesetzte, aber komplementäre Erzählungen vom unendlichen Fortschritt des Kapitalismus oder vom Ende der Welt oder wir verändern die Erzählung zu dem, was sich gerade zuträgt. Jetzt frage ich euch: Wie ändern wir die Erzählung?
Ariane Koch: Vielleicht neige ich ein wenig zum naiven Idealismus, aber ich denke, dass wir als Kunstschaffende, Schreibende die Erzählung ständig mit-ändern. Voraussetzung ist vielleicht das Bewusstsein darüber, dass es viele bestehende Erzählungen gibt, die überdacht oder erweitert werden müssen. Dass auch die eigenen Erzählungen ständig wieder einer Aktualisierung oder Prüfung unterzogen werden müssen. Ich unterrichte an der Kunsthochschule in Basel experimentelle Theorie und komme daher viel ins Gespräch mit jungen Leuten. Einerseits ist der Unterricht für mich ein Raum, in dem ich die Studierenden vor allem dazu anhalten möchte, selbst zu denken und zu überdenken. Das schafft manchmal auch Irritation, weil ich mein Wissen oder Nicht-Wissen nicht ernster nehme als das ihrige, also ziemlich antiautoritär bin. Auch wenn ich natürlich nicht leugnen kann, dass ich die Seminare anleite und verantworte. Ich denke aber, dass ich mindestens genauso viel von den Studierenden lerne, es also immer auch ein gemeinsames Explorieren neuer Erzählformen ist. Dabei geht es darum, herauszufinden, was und wie wir lernen wollen und was überhaupt Wissen, Theorie ist.
Ozi Ozar: Ich suche da für mich selbst nach Antworten. All die Klimaaktivist:innen, die syrischen, irakischen oder ukrainischen Aktivist:innen, wir kämpfen doch eigentlich grundsätzlich für sehr ähnliche Ziele. Und trotzdem, mit den Tools, die wir in unseren demokratischen Strukturen haben, um Druck auf Regierungen auszuüben, kommen wir nicht von jetzt auf gleich ans Ziel, um ein Umdenken zu erreichen. Wenn ich eine Sache gelernt habe, dann ist es das: dass Geduld eine absolut wichtige Komponente ist. Wir brauchen eine Art von Störung oder Irritation in unserem täglichen Leben, so wie es zum Beispiel die Letzte Generation im Kampf für globale Klimagerechtigkeit tut. Es ist auch wichtig, dass die Menschen verstehen, dass sie diese Kraft der Störung haben. So holt sich eine Gesellschaft auch ihre eigene Macht von Regierungen zurück.
Anna-Katharina Müller: Wenn wir an Aktionen vom Zentrum für Politische Schönheit, vom peng Kollektiv denken, oder weiter zurück, an jemanden wie Christoph Schlingensief erinnern: all diese Aktionen üben Druck auf politische Systeme und gesellschaftliche Strukturen aus. Ich fange dann an, über Kunst nachzudenken – die Suche nach etwas, das im öffentlichen Raum keinen rationalen, logischen »Sinn« ergibt, keinen »Nutzen« hat, um es kapitalistisch auszudrücken. Das zunächst Sinnlose, aber das Irritierend-ästhetisch-Störende.
Akın E. Şipal: In der Systemtheorie gibt es die Idee der »Verstörung«. Ein komplexes System ist nicht einfach zu heilen, sondern muss verstört werden, in der Hoffnung, dass es sich auf einem heilsameren Weg verändert. Es muss auf verschiedenen Ebenen diese Verstörungen geben, denn nicht alle Menschen nutzen Social Media oder fahren Auto. Man muss dafür sorgen, dass das bestehende System nicht mehr reibungslos läuft. Es geht nämlich nicht nur ums Klima, auch wenn das unsere große Aufgabe ist, sondern auch um Freiheit.
Anna-Katharina Müller: Ich möchte auf Körper zu sprechen kommen, denn in all diesen Diskursen wird immer wieder deutlich, wie sehr diejenigen attackiert werden, die sich offensichtlich nicht in den mächtigen, privilegierten Positionen befinden, seien es die Frauen im Iran oder die junge Generation, die sich gegen die versäumte Klimapolitik aufbäumt. Körper werden immer noch sehr stark hierarchisiert oder komplett verdrängt.
Ariane, der kranke Körper spielt eine zentrale Rolle in deinem neuen Stück, Kranke Hunde. Du beschäftigst dich dort mit einer erschöpften, kapitalistischen Gesellschaft und erzählst die Geschichte von einer kranken Rennhündin, deren Krankheit sich nicht diagnostizieren lässt. Die Unterscheidung in gesund / krank ist ja etwas, das sich spätestens seit COVID extrem verschärft hat. Die Mehrheit der chronisch Kranken in Deutschland sind Frauen, die Gender-Medizin ist ein Bereich, der erst langsam zu wachsen beginnt.
Ariane Koch: Genau, mit COVID ist die Frage nach der Verwundbarkeit des Körpers sichtbarer geworden. Es hat vielleicht sogar in einem ersten Schritt so ausgesehen, als mache das die verschiedenen Körper egalitärer. Im Weiteren ist dann aber sofort die Frage aufgetaucht: Welche Körper werden medizinisch behandelt? Überhaupt spiegelt sich in der Medizin das ganze gesellschaftliche Ungleichgewicht wider. Das gesamte System inklusive Forschung, Datenerhebung, Medikamentenentwicklung, Diagnosen usw. ist fast ausschließlich auf einen Normkörper ausgerichtet, also den so genannten männlichen, weißen Cis-Körper. Die Chance zum Beispiel, als Frau* an einer Krankheit zu sterben, ist damit viel höher, weil sie eventuell falsch, unzureichend oder gar nicht behandelt wird. Es gibt aber andere Fragen, die mich auch interessieren: Beispielsweise haben wir eine sehr ökonomische Vorstellung des Körpers. Wenn er erkrankt, wird er als dysfunktional angesehen und sozusagen erst mal aus dem Produktionskreislauf ausgeschlossen. Unsere Vorstellung von Krankheit ist also die einer Störung des kapitalistischen Systems, ähnlich wie das Alter. Darin lässt sich fast wieder ein Moment von Aufbegehren finden, denke ich. Aber hauptsächlich gibt es die Gefahr, dass das Label »krank« eine:n definitorisch aus der Gesellschaft ausschließt und potenzieller Armut aussetzt. Diese Ungleichbehandlung oder gar gefährliche Mystifizierung gewisser Körper habe ich dann in die Hundewelt versetzt, um nicht bestimmte diskriminierende Kategorien zu reproduzieren und dennoch die absolute Unterwerfung zu erzählen.
Ozi Ozar: Daran anschließend möchte ich an dieser Stelle unbedingt über Trans Körper sprechen. Das Problem ist, dass wir immer bei der einen gültigen, allgemein akzeptierten ideologischen Vorstellung bleiben. Es geht damit los, dass es so unermesslich viel Druck von der Trans Community braucht – nicht nur, dass es darum geht, sich selbst zu definieren, zu finden oder für Grundrechte zu kämpfen. Immer müssen auch alle anderen aufgeklärt werden, dass ein Körper eben nicht so oder so ist.
Man braucht immer eine radikalere Gruppe, die stark pushen muss, um eine bessere Mitte zu finden. Die Trans und queere Community pusht so viel von den Seiten, damit andere Menschen verstehen, dass sich die Dinge verändern. Es ist nicht nur der weibliche Körper, der attackiert wird. Es sind alle nichtmännlichen Körper. Die Körper, die nicht gesehen werden oder auch als »nicht männlich genug« angesehen werden. Wenn wir im Binären denken, zementieren wir das Patriarchat.
Wir haben so viel dagesessen und immer wieder versucht, uns gegenseitig vom Richtigen oder Falschen zu überzeugen oder zu beweisen, was stimmt und was nicht. In diesem Kreislauf fehlt das Nachdenken über den common ground. Wir haben in der Vergangenheit nicht die soziale Fähigkeit erlernt, uns gemeinsam eine bessere Zukunft vorzustellen.
Akın E. Şipal: Thomas Bauer hat in Die Kultur der Ambiguität über den Islam geschrieben und darüber, dass es dort immer viele parallel existierende unterschiedliche Ansichten gab, darunter auch sehr radikale. Dabei könnte man es jetzt belassen, weil eine alternative Sichtweise vielleicht keine direkte Konsequenz für eine andere hat. Aber dadurch ist der Gegenentwurf ja nicht verschwunden. Die Kultur der Ambiguität und damit zu leben, erscheint mir manchmal reifer als die Vorstellung, wir könnten das Andere einfach ausblenden.
Ariane Koch: Judith Butler hat auch über Verwundbarkeit geschrieben, aber nicht die Verwundbarkeit des Einzelnen, sondern die Verwundbarkeit von allen. Wir tragen also doch alle dieselbe Verwundbarkeit. Das ist für mich insofern ein Gegenentwurf, als er vom Schwachen her weiterdenkt. Schwäche als menschliche Grundbedingung vielleicht, als Ausgangspunkt für ein systemisches Umdenken und als verbindende Kraft.
Anna-Katharina Müller: … und diese verbindende Kraft lässt sich ja oft auch sehr gut im Theater finden. Danke euch sehr für eure Zeit und für all diese inspirierenden Gedanken!
Das Gespräch fand digital in englischer und deutscher Sprache statt, am 28. August 2023.