Ein Chat mit Antje Boetius, Selma Kay Matter, Thomas Köck und Yvonne Büdenhölzer
[30.08.2023, 10:35]
YVONNE BÜDENHÖLZER
Hallo in die Runde! Hier ist Yvonne. Ich freue mich auf den Austausch mit euch in den nächsten Tagen! Es geht um das Thema KIPPPUNKTE, das wir für die nächste Ausgabe unseres Magazins gewählt haben. In unserem Austausch liegt der Fokus auf Kipppunkten, die mit der Klimakrise einhergehen, Kipppunkten unseres ökologischen und sozialen Selbstverständnisses.
[10:44]
Wo bist du gerade und wie macht sich der Klimawandel dort bemerkbar?
[14:39]
THOMAS KÖCK
Hallo zusammen, freu mich auf unser Gespräch, vielen Dank für die Idee & Verknüpfung! Ich bin gerade auf einer Insel in der kroatischen Adria, die sehr karg ist, weil sie von Venedig komplett gerodet wurde für den Schiffbau ab dem 14. Jh. Davon hat sie sich immer noch nicht erholt, weil regelmäßig heftige Winde drüber hinwegziehen und junge Bäume wegreißen. Den Klimawandel spürt man hier sehr deutlich, alles ist too much, einerseits das viel zu warme Wasser; wir hatten 28 Grad Wassertemperatur auf der Oberfläche und beim Tauchen auf knapp 20 Meter immer noch über 20 Grad. Korallen / Polypen usw. sind alle gone in Küstennähe. Andererseits sind Wetterextreme häufiger und extremer. In so einem berühmten lokalen Moor, das mal voll mit Krebsen und Kleintieren war, ist mittlerweile kein Leben mehr. Und das Wasser steigt bei Flut und passenden Winden über ¾ vom Strand. Das kriegen auch alle mit, das Moor auch, ist ja auch unübersehbar, wenn die Fläche, die vor 30 Jahren mal als Strand angelegt wurde, einfach weg ist.
[18:36]
ANTJE BOETIUS
Liebe alle – ich schreibe von 85° N und 130° E aus der zentralen Arktis. Ich bin auf dem Forschungseisbrecher Polarstern – leite eine 2-monatige Expedition, die sich damit beschäftigt, wie die abnehmende Meereisbedeckung den Ozean und seine Lebensvielfalt verändert, von der Oberfläche bis in die Tiefsee. Die 50 Forschenden an Bord bearbeiten Physik, Chemie und Biologie zusammen in einem Systemansatz, und das Besondere der Expedition ist für mich: Ich war hier vor 30 und vor 11 Jahren, habe also eine Art eigene Augenzeugen-Zeitreihe für eine Region der Erde, wo keine Menschen leben und nie gelebt haben, aber dennoch unsere Spuren sichtbar werden. Allem voran die des Klimawandels, denn die Akkumulation von CO₂ in der Erde und der Meereisschwund von 13 % pro Dekade hängen direkt miteinander zusammen. Aber es ist auch mehr – beginnende Plastik-Verschmutzung, Anreicherung der Nahrungsnetze mit Toxinen. Zu meiner Wissenschaft gehört auch, den Lebewesen und Landschaften der arktischen Tiefsee, die niemand kennt, durch Bebilderung, Namensgebung, Dialog einen Platz in unseren Köpfen zu geben.
[31.08.2023, 10:45]
SELMA KAY MATTER
hi ihr drei, ich bin gerade in berlin, in meiner wohnung in tempelhof. 50 m von meiner wohnung ist ein teich, 100 m von mir ein zweiter und 200 m weiter noch mal einer. alle drei sind irgendwie viel zu grün und nur 1 m tief, die enten schwimmen durch eine dichte decke aus [???]. das ist vielleicht das von hier aus offensichtlichste. dann die sticky gehsteige vor ein paar wochen, als es so lange nicht geregnet hat, dass die ausscheidungen der blattläuse von den bäumen getropft sind (diese info habe ich von anna-katharina müller). und dann gibt es natürlich all die seen um berlin herum, wie den seddiner see, über den ich in grelle tage auch geschrieben habe … der ist ja z.t. verdampft und z.t. für die bewässerung eines golfplatzes aufgebraucht worden …
[15:03]
ANTJE BOETIUS
»Entenschnott«? Wasserpest oder Grünalgenschleim? Das sind Zeichen von Eutrophierung, zu viele Nährstoffe im Teich. Kombiniert mit zu warmen Temperaturen bedeutet das, kaum Sauerstoff mehr im Wasser und: Teich kippt um.
[15:15]
YVONNE BÜDENHÖLZER
Wie definiert ihr einen Kipppunkt? Und welche Kipppunkte sozialer, ökologischer, politischer Art bereiten euch Sorge?
[15:28]
ANTJE BOETIUS
In der Wissenschaft gibt es derzeit Streit über das, was als Klima-Kipppunkte im Erdsystem bezeichnet wird, weil es keine klare Definition gibt. In der Ökologie haben wir eine Definition, die heißt: abrupten, unveränderlichen Wechsel in ein neues System. Da ist aber im Klimasystem bisher nur auf sehr langen Zeitskalen jenseits des menschlichen Gedächtnisses physikalisch eine Umkehr möglich.
[21:44]
THOMAS KÖCK
Ahoi, Pardon, hier war Sturm die letzten Tage und da ist das mit dem Internet nicht so easy. Hm, interessante Frage, ich finde das mit dem
Gedächtnis der Menschheit interessant, weil so ein Teich, wie ihn Selma Kay beschrieb, kann ja auch kippen, und einige Zeit später (oder sehr viel später) sozusagen relativ zum oder jenseits des Gedächtnisses der jeweiligen hiesigen Population, wieder »lebenswert« werden, und ich glaube, so würde ich jetzt mal als These »Kipppunkte« betrachten. Also die kritischen Punkte, die das Funktionieren dieses Ökosystems (der Teich sozusagen) gewährleisten, das z.B. diese spezifischen Lebensbedingungen schafft. Der Planet explodiert ja nicht plötzlich und verschwindet, aber die Möglichkeiten & Voraussetzungen für spezifisches Leben werden sich (drastisch) ändern (& haben sich ja schon oft drastisch geändert im Laufe der planetarischen Geschichte). Ich glaube, da beginnt dann eben auch automatisch die politische Frage. Für welche Teile der Weltbevölkerung (& für welche Spezies & Lifeforms) sind welche Kipppunkte sozusagen katastrophal (im Sinne von letal, wegen Lebensbedingungen)? Und vor allem für welche Teile der Weltbevölkerung ist da schon jetzt etwas gekippt? Ich schicke Grüße in alle Richtungen!
[01.09.2023, 12:25]
ANTJE BOETIUS
Ich nehme – vermutlich aufgrund des Optimistenprogramms in meinem Gehirn – in der Gesellschaft in Bezug auf Klima wenigstens einen positiven Kipppunkt wahr, nämlich dass es klare Mehrheiten gibt, in denen fundamentale Erkenntnisse geteilt werden und dies auch in Krisen stabil ist – wie bei den Umfragen zu Klimaschutz sichtbar. Auch in der Politik hat sich die Sprache in Bezug auf Klima und Biodiversität vollständig verändert in den letzten 20 Jahren. Es gibt dazu auch zumindest schon mal Verträge der Staatengemeinschaft mit Zielen – auch wenn die Umsetzung/Erreichung noch nicht geschafft ist, ein Horizont ist da. Ich bin mir sicher, dass das was ausmacht, einen internationalen Ziele-Rahmen gesteckt zu haben, der global gültig ist – der kann nicht mehr ignoriert werden.
[12:37]
Aber jetzt zur Sorge, nach der eigentlich gefragt war: Ich mache mir Sorgen über den Mangel an Vorbereitung der Gesellschaft auf die Extremereignisse, die nun mal schon jetzt bei 1,2 °C globaler Erwärmung ins Haus stehen und sich bis 2 °C stets und nicht linear verstärken werden. Es geht hier nicht darum – wie Thomas schreibt –, dass der ganze Planet explodiert; es geht darum, dass wir in eine Zeit kommen, wo, wie vom IPCC1 ermittelt, geschätzt jeder zweite Mensch von dann 8 Milliarden eine apokalyptische Erfahrung in seinem Leben machen wird. Seien es Waldbrände, Verlust allen Eigentums durch Wasser oder Wind oder Schnee, Verdorren der Ernten, Pandemie etc. Dabei geht es um lokale Ereignisse, die aber in der Summe unfassbar viele Menschen in ihrer Lebenszeit betreffen und uns natürlich verändern. Und es ist eben nicht so, dass es nur »das andere Leben« trifft, sondern alle, gerade auch Großstädte. Der Katastrophenschutz, das Verständnis von der Empfindlichkeit der Infrastrukturen ist auch bei uns absolut untermassig. Als Teil des Umbaus muss es um viel mehr Resilienz gehen bis zum Erreichen eines neuen Gleichgewichts mit Klima und Natur.
[18:11]
SELMA KAY MATTER
ich denke da gerade in eine ähnliche richtung, was (gesellschaftliche) kipppunkte angeht. wahrscheinlich kennt ihr »wie man eine pipeline in die luft jagt« von andreas malm. malm macht da ja das beispiel von fußgänger:innen, die mit schlüsseln SUVs zerkratzen, à la: wenn x personen das praktizieren, diese form von breit gestreutem, stark über quantität funktionierendem aktivismus bzw. softem »klimaterrorismus«, dann wird ein kipppunkt erreicht, die leute parken ihre SUVs nicht mehr in der stadt, kaufen bald auch gar keine mehr, weil die dauernden lackreparaturen nerven und teuer sind … na ja, meine frage ist: wie mobilisiert man die breite gesellschaft dazu, sich gemeinsam in richtung eines solchen kipppunktes zu bewegen? wie viel braucht es davon, wie minimal – oder maximalinvasiv kann bzw. muss diese form des aktivismus sein?
[19:50]
ANTJE BOETIUS
Mein Blick ist da anders. Ich befürchte, dass die von der Ölindustrie per PR-Maschine geworfenen Nebelkerzen, dass jeder seinen individuellen Fußabdruck verantwortet, schon in viel zu viele Köpfe gekrochen ist. Es fühlt sich schrecklich an, die Zukunft zu verantworten durch die Gegenwart, aber nicht aus ihr aussteigen zu können – das erzeugt Wut, Verzweiflung. Aber damit Klimaneutralität erreicht wird, muss ja ein sehr großer Wandel in Infrastruktur umgesetzt werden, vor allem auch jenseits der individuellen Einflussgröße – und das Autokaufverhalten ist wiederum nur ein Anteil davon. Der Umbau kann im Wesentlichen nur staatlich und wirtschaftlich organisiert werden. Das braucht entsprechenden gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der funktioniert dann, wenn es Mensch sowohl kurz- wie langfristig, lohnenswert erscheint, seine Haltung, Aufmerksamkeit, Empathie, Verhalten zu ändern und sich aktiv für Veränderung einzusetzen. Dafür gibt es in Bezug auf CO₂-Emissionen gelungene sozioökonomische Beispiele für Anreize, die immer mehr Länder anwenden – Energieverschwendung und CO₂-Emissionen teuer machen, klimaschützende Technologien viel günstiger, aus Ersterem Geld einnehmen für den sozialen Ausgleich, den es braucht, damit alle mitkommen, sowie für die großen Umbauprojekte, die der Staat beauftragt.
[20:15]
YVONNE BÜDENHÖLZER
Immer wieder höre ich, der Klimawandel sei zu abstrakt, um ihn auf der Bühne erfahrbar zu machen. Waldbrände, Extremwetterereignisse, Hitze, Dürre lassen sich auf der Bühne nicht so gut darstellen wie Familienhöllen, Intrigen, Mord oder Ehebruch. Selma Kays und Thomas’ Stücke thematisieren den Klimawandel auf unterschiedlichste Art und zeigen, dass es doch möglich ist … Anknüpfend an das, was @Antje schrieb, die davon spricht, mit Sprache und Empathie ein Verständnis zu schaffen, stellt sich mir die Frage: Warum ist es denn so schwer, die Dringlichkeit der Situation einer breiten Masse zu vermitteln, und was kann das Theater dazu beitragen?
[03.09.2023, 14:39]
THOMAS KÖCK
Hallo, hallo! Tausend tolle Fragen! Es fehlt schlicht die gesellschaftliche / künstlerische Vorstellungskraft dazu, zu verstehen, worum es geht / gehen wird in den nächsten Jahren, gesellschaftspolitisch usw. … Und die fehlt, weil sie in der Klassik schon nicht auftaucht. Ich kenn genau die Einwände, seit ich 2013/14 mit der Klimatrilogie begonnen hab. »Was will der jetzt mit Klima?«, »kommt jetzt die nächste grüne Dramatik?«, »viel zu kompliziert, mach was mit WGs« usw. Und ich hör die Sätze heute noch. In Frankfurt hat die Bühnenbildnerin Barbara Ehnes für ein Stück von mir versucht, einen neuen Baustoff einzuführen, selbstwachsendes Pilzmycel, kann wie Styropor, Plastik usw. benutzt werden, und wenn ich dann anderswo davon erzählt habe, hieß es regelmäßig, das sei zu kleinteilig – also ein neuer Baustoff, der flächendeckend eingeführt & genutzt werden könnte (& mit dem die NASA experimentiert), überlebt schon die Konzeptionsphase nicht, weil die Menschen in Institutionen zu bequem sind, ihre Routinen zu ändern, und sich Ausreden dafür überlegen, warum es gar nicht erst probiert werden sollte. Dabei gehören die Ausbeutungsproblematiken doch alle zusammen. Die Ausbeutung der Natur hängt eng mit dem Patriarchat, patriarchalen Wissensordnungen und kolonialen Praktiken zusammen. Und in diesen Zusammenhängen liegt auch der dramatische Kern. Das lässt sich eigentlich leicht erzählen, wenn man sich mit den Thematiken beschäftigt.
[18:51]
ANTJE BOETIUS
Seitdem das politische, soziale und (ur)menschliche Dilemma besser herausgearbeitet wurde, gibt es doch tolle Texte und Projekte. Man muss sich eben das Dramatische an der Situation vor Augen führen – es existiert in so vielen Varianten, in den uralten Themen von Schuld & Sühne, von Selbstüberschätzung und Verlust, von Verirrung, Tod und Neuanfang. Von Widerstand, Heldentum, Verrat, Lüge etc. Und ich finde, es gibt auch viel Material, das direkt aus der Vergangenheit zu übersetzen ist – wie Ödipus und Antigone; wie Brechts heilige Johanna der Schlachthöfe … Und so viele internationale Autoren, die mit einem neuen Bewusstsein da sind. Die brauchen halt Platz, Gelegenheiten, Förderung.
[19:55]
SELMA KAY MATTER
ich würde sagen, genau das, was als argument gegen die künstlerische auseinandersetzung mit der klimakatastrophe verwendet wird – die mechanismen seien zu abstrakt, zu wenig konkret greifbar –, hat mich als autor:in dazu gebracht, einen text zu schreiben, der versucht, schwer greifbare zusammenhänge konkret erfahrbar und erfühlbar zu machen. (dass die folgen nicht konkret sichtbar sind, trägt ja als argument auch aus einer perspektive des globalen nordens bereits jetzt nicht mehr.) ich mache das in meinem stück, indem ich vorgänge an verschiedenen orten auf der welt miteinander verknüpfe – teils kausal, teils aber auch eher als nebeneinander, jedoch nicht getrennt voneinander stattfindende vorgänge, die ineinander übergehen. das hat mich interessiert: wie kriegt man alles in ein bild? und in bezug auf die nicht-menschlichen perspektiven auch: wie lässt sich fragend theater schreiben, wie lassen sich fragend dramaturgien und figuren erzählen? bei der frage, was theater in bezug auf die klimakatastrophe am ehesten beitragen kann, würde ich mich gerne auf bayo akomolafe beziehen. akomolafe erarbeitet den begriff des »withnessing« anstelle des bloßen witnessing. und dafür brauchen wir, denke ich, das emotionale nachvollziehen, das über künstlerische arbeiten möglich sein kann.
[20:15]
ANTJE BOETIUS
Ja, diese Gleichzeitigkeit ist so wichtig erfahrbar zu machen. Und das ist eben das Neue, Dramatische an dem Überschreiten von schon 1°C Erwärmung – es kann jeden Ort erwischen. Überall. Wir sind nicht vorbereitet. Die Wissenschaft kann aber immer besser aufzeigen, welcher Anteil Menschengemachtes zu den natürlichen Risiken kommt – und auf Weghören, Fehlentscheidungen, auch Lügen beruht. Damit entsteht ein wachsendes gesellschaftliches Wissen um Schuld – aber auch um Chancen, es entsteht Verlangen nach guter Governance – von dem ich mir sicher bin: es wird künftig immer mehr darum gehen – und das gibt ganz neue Kräfte. Es könnten gute sein, wenn sie genutzt werden, um den Umbau zu beschleunigen. Es kann die Gesellschaft aber erst auch zerreißen, wie so oft in großen Menschheitstransformationen. Wann und wie daraus sich welche Kräfte entwickeln, ist leider nicht vorherzusagen, sagen meine Kolleg:innen Historiker und Soziologen.
[20:38]
YVONNE BÜDENHÖLZER
Ich komme jetzt mal mit einer Strukturfrage. 😎 Der Baustoff-Bühnenbild-Aspekt (selbstwachsendes Pilzmycel 🍄) und die damit einhergehende mangelnde Flexibilität der Bühnen, die Thomas erwähnte, lässt mich darauf kommen. Die Theater beschäftigen sich mittlerweile stark mit Fragen der Betriebsökologie. Viele Häuser erstellen Klimabilanzierungen, einige sind zertifiziert durch EMAS, ISO 14001 oder Gemeinwohl-Ökonomie2. Mittlerweile ist auch klar, dass die großen Hebel in der energetischen Sanierung der Theaterhäuser, im Beziehen von grünem Strom sowie in der Mobilität liegen und nicht im Einsparen von Programmheften oder im Verzicht auf Fleisch in der Kantine. Und wenn man in Deutschland ein Tempolimit einführen oder die Lufthansa die Leerflüge abschaffen würde, könnten wir alle noch unzählige Jahre verschwenderisches Theater machen. Auf was sollten die Theater verzichten und wo sollten sie weiter verschwenderisch sein?
[04.09.2023, 17:42]
THOMAS KÖCK
Hallo zusammen, ich persönlich sehe Theater extrem in der Pflicht, verschwenderisch viele neue der Nachhaltigkeit verpflichtete Produktionsweisen, -mittel & -abläufe zu erproben & zu entwickeln. Und am besten fände ich, wenn die ganzen Gewerke & Abteilungen am Haus sich zu einem Modell für Kreislaufwirtschaftsmodelle zusammenschließen und alles intern erzeugen, wiederverwenden usw. Das löst noch nicht die Probleme der Luftfahrt, aber mir gehts auch eher darum, Rohstoffe, Ressourcen & den daily Umgang mit dem Planeten in allen Bereichen im Bewusstsein zu verankern. Dinge kosten. Wenn nicht heute, dann für Menschen in hundert Jahren (oder in wesentlich weniger …), & denen sind wir ja auch verpflichtet.
[20:24]
ANTJE BOETIUS
Mir scheint es wichtig – und so verstehe ich deine Frage, Yvonne, und deinen Input, Thomas – einerseits ein quantitatives Verständnis zu entwickeln: Wie kann ich überhaupt nachhaltig arbeiten, auf was kommt es an, wo gibt es keine Alternative, wo geht es um ganz neue Lösungen. Dann wird man sprechfähiger. Wichtig ist auch zu begreifen, dass das Falscheste wäre, sich selbst zum Verstummen zu bringen, in immer kleineren Blasen zu verschwinden. Neue Produktionsweisen erproben und andere Materialien, Möglichkeiten des Recyclings kann für die Gemeinschaft viel auslösen. Aber es ist insgesamt eben ein schmaler Grat – immer weiter zu individualisieren und sich im Kleinen zu verlieren ist falsch. Denn wenn Theater dann nicht mehr wild, laut, frech sein kann, wenn keine Zeit bleibt für den Zauber, dann ist es tot. Ich finde, es bringt am meisten, Gleichgesinnte zu finden und zusammen herauszuarbeiten, a) was man selbst machen kann und will, um besser zu sein, b) was man einfordern muss – von der Stadt, vom Staat, von der Politik –, und genau dafür eine Stimme zu entwickeln.
[05.09.2023, 18:43]
YVONNE BÜDENHÖLZER
@Antje ich bewundere das Optimistinnenprogramm in deinem Gehirn. Auch mit welcher Begeisterung und positiven Neutralität du als Wissenschaftlerin Dinge benennst. Mich machen Fragen rund um die Klimakrise oder -katastrophe oft so hilflos und frustriert … Andererseits glaube ich dann wiederum an die Wissenschaft (und Politik) und bin überzeugt davon, dass man seine Privilegien nutzen und mehr Verantwortung übernehmen muss. @Selma Kay in deinem neuen Text Helena oder Stay safe and sorry fragst du: Wie umgehen mit der diffusen Klimaschuld des eigenen Lebensstils, dessen Auswirkungen wir immer konkreter zu sehen und zu spüren bekommen? Wie umgehen mit dem Paradox, Teil eines Ökosystems zu sein und zugleich eines Wirtschaftssystems, das die Grundlagen aller, auch der nichtmenschlichen Existenzen zerstört? Wie geht ihr mit dem Wissen um die eigenen Privilegien um?
[21:25]
ANTJE BOETIUS
Ich nutze mein Privileg, alles zu hinterfragen, zu recherchieren, mich mit Wissen vollzustopfen und mich zu vernetzen. Schon lange beschäftige ich mich mit der Frage, wie lange es gedauert hatte, bis gewusst wurde, wohin die Nutzung fossiler Brennstoffe führt und welchen Weg das Wissen genommen hat und wann der Krieg gegen Klimawissen begonnen hat. Das hilft mir, alles in einem Kontext zu sehen, und grundsätzlich finde ich den Umstand, zu verstehen und zu wissen, tröstlich.
[21:35]
Mich interessiert das, was Selma Kay und Thomas oben beschrieben haben: Wie kann ich eine Sprache dafür finden, was mit uns geschieht, was zu ändern ist, um welche Verluste es geht, wenn sich nicht der Rahmen unseres Handelns ändert. Derzeit versuche ich mich auf neue Projekte zu konzentrieren, wo es darum geht, Natur, seltsame Lebensvielfalt, alte Techniken der Naturpflege zu feiern und Leute mitzureißen mitzumachen. Das ist auch ein Privileg, seitdem ich nach den guten Erzählungen suche, finde ich die tollsten Leute zum Vernetzen und darf darüber gerade einen Film drehen.
[07.09.2023, 11:43]
THOMAS KÖCK
Hello! Pardon, noch zu den Privilegien. Ich finde das in der Kürze auch gar keine einfache Frage. Also wie können wir umgehen mit unseren Privilegien: Sie als Gewicht einsetzen, um Raum zu schaffen & Raum zu geben, für Themen, Menschen & Positionen, vor allem wenn sie nicht mehrheitsfähig sind oder gerade wenn sie die eigenen Privilegien stützen, sprich, aufs Theater bezogen: nicht zurückschrecken, die Hand zu beißen, die dich füttert. Und sich immer auch mit sich selbst desinfizieren & unruhig bleiben, wie Donna Haraway sagt. Immer nachschauen: Wer stellt wem in welchen Räumen welche Fragen, und wer kann antworten. Weil wir arbeiten immer auch für die noch Kommenden. Ansonsten weitermachen. Weiterbilden, weiterlernen, weiterlesen, vor allem lesen, lesen, lesen & Banden, Koalitionen & Allianzen bilden, weil es ist schon ein Riesenprivileg, über die Zeit zu verfügen, wie Antje auch meinte, sich Wissen aneignen zu können und mit klugen Menschen
sprechen & arbeiten zu dürfen.
[11:50]
YVONNE BÜDENHÖLZER
SCHWANKENDE KANARIEN 🐦
Ich habe in Vorbereitung auf diesen Chat viel über die Rolle der Tiere nachgedacht, und der Essay von Judith Schalansky Schwankende Kanarien (Verbrecher Verlag 2023) hat uns zum Thema Kipppunkte inspiriert. Tiere nehmen in der Forschung rund ums Klima die Rolle von Frühwarnsystemen ein, sind tolle Protagonisten im Theater und und und … Frage an alle: Was erzählen uns Tiere über klimatische Kipppunkte?
[20:18]
SELMA KAY MATTER
also, ich kann ganz spezifisch in bezug auf den zerfledderten wolfshund aus »grelle tage« antworten: mich berührt an dieser figur, dass es einer jener vertreter:innen ist, die in einem realistischen setting am allerwenigsten sprechen können – der wolfshund ist nicht nur tot, sondern auch noch 13000 jahre alt plus eingefroren. all diese barrieren überwindet meine figur aber, weil es eben zu warm ist – so warm, dass der zerfledderte hund auftaut und ein zweites mal lebt und stirbt. das ist also im mehrfachen sinne ein spezialfall, in dem der tod und erdzeitalter transzendiert werden … vielleicht schließe ich mit haraway, die von den »anderen« sagt, dass sie die macht der »einen« durch ihre bloße anwesenheit bereits stören … (das kommt im »companion species manifesto« vor.) das finde ich einen inspirierenden und vor allem auch auf andere machtverhältnisse übertragbaren ansatz.
[08.09.2023, 11:09]
ANTJE BOETIUS
Zum Thema »was erzählen Tiere«: Gut, dass du auch Judith Schalansky erwähnst. Sie hat in dem Essay tief und gelb über den Kanarienvogel als Symbol des fossilen Energie-Zeitalters geschrieben. Und @Selma Kay starke Idee, ein ausgestorbenes Tier zu nehmen! Ich finde Tiere, aber auch Pflanzen (Warten auf Godot; Esche in der Edda) können eine prima Projektionsfläche abgeben. Ich bin kein Theaterforscher, aber von dem,was ich aus der Anthropologie und von verschiedenen Kulturen weiß, ist es eine uralte Praxis der Menschen, der Mitwelt, dem nichtmenschlichen Leben, in Sprache, Tanz, Musik, allen Arten von Kunst einen Platz zu geben als eine solche Projektionsfläche – aber dahinter steckt ja auch einfach das Verständnis: Ohne sie wären wir nicht da, wo wir sind. Warum die aktuellen deutschen Theater und die Förderung da so einfallslos scheinen (bis auf Kindertheater) oder auch strikt ablehnend, wie ihr und ich es erfahren haben, ist merkwürdig. Übrigens: In der Wissenschaft ist es dass bestimmte Lebewesen als sogenannte »Leitorganismen«, als Projektion für ein ganzes ökologisches Netzwerk, stehen. Zuletzt zu meiner Praxis: Ich habe mir vorgenommen über das unsichtbare Netzwerk des Lebens zu arbeiten, also nicht die Kanarienvögel, sondern die Bakterien, die Pilze, die Tiefseelebewesen, die keiner sieht. Das interessierte mich schon als Kind, wie alles vernetzt ist, und es macht mir Freude, das aufklären zu können, Bilder für diesen Teil des Lebens zu gewinnen und mit Menschen darüber zu sprechen. Daher ist das vielleicht mein wesentlicher Beitrag von Wissenschaft zu Kultur: komplett Unbekanntes sichtbar, denkbar, fühlbar zu machen.
[17:48]
THOMAS KÖCK
Hallo hallo hallo, Pardon, ich war heute & gestern wieder tauchen, sehr tief (für meine Verhältnisse), auf 40 Meter & hab da dann viel über Kunst / Wissenschaft & Tiere nachgedacht, und über kosmischen Horror, also das Genre, Cosmic Horror, weil wenn du vor so einer Felswand, die 20 Meter hoch geht, unter Wasser hochschaust, dann passiert etwas, dann erkennst du fast eine andere Präsenz, nämlich einen Planeten. Und das mag jetzt etwas mystizistisch (also im Sinne der Mystik) klingen, vielleicht war’s auch Tiefenrausch, aber für mich liegt der Kipppunkt zwischen Wissenschaft und Kunst / Literatur vielleicht genau an diesem Punkt oder dieser Grenze, da unten (& 20 Meter sind ja noch gar nix, wenn du dir das Ausmaß der unterseeischen Gebirgszüge vorstellst). Und noch zu »und alle tiere rufen«: Ich habe das erst beim Schreiben des Texts entdeckt, inwieweit die westliche Expansion und der Kolonialismus letztlich eine organisierte roadmap of extinction auch gezeichnet haben. Und zwar eine, die direkt & tief in unsere Zukunft hineinführt. Und vielen Dank von meiner Seite, dass ich an diesem Chat teilnehmen durfte, der hat mich jetzt hier in den letzten Tagen begleitet. Liebe Grüße in alle Richtungen, Thomas
[21:17]
SELMA KAY MATTER
danke euch!!
[22:00]
ANTJE BOETIUS
Danke!
[09.09.2023, 11:59]
YVONNE BÜDENHÖLZER
Liebe Antje, dear Selma Kay, lieber Thomas, vielen Dank für den erkenntnisreichen Austausch! Es war mir eine Freude. Ich sende euch Grüße aus
der Torstraße 44!