Nach welchem System ordnen Sie Ihre Bücher?
Als ich vor einem Jahr umgezogen bin, habe ich mir eine neue Ordnung überlegt, weil ich durch den Umzug plötzlich etwas mehr Platz hatte. »Etwas mehr« meint: Das Platzproblem bleibt mein größter Feind, wenn es um das Ordnen der Bücher geht. Zwei beliebte Regale dieses schwedischen Möbelhauses stehen bei mir zu Hause nebeneinander. Eines in der schmaleren Variante, das habe ich fast ausschließlich für Lyrikbände (sowohl deutsch- als auch englischsprachige) reserviert, die ich alphabetisch sortiert habe. Und im größeren Regal daneben steht alles andere: Sachbücher, Essays, Bilderbücher, englischsprachige Prosa, Romane, Graphic Novels und ein paar Kunstbücher. Aber weil der Platz nicht reicht, verteilen sich in der Wohnung verschiedene Stapel an anderen Stellen. Und dann gibt es noch eine sich stets wandelnde Auswahl an Büchern auf dem Nachttisch, die ich gerade griffbereit haben möchte.
Welches Buch lesen Sie gerade?
John Ashbery: Selected Poems (1986) – eine vom Autor eigens zusammengestellte Auswahl von 138 Gedichten aus verschiedenen Bänden seiner literarischen Laufbahn.
Wie weit reicht Ihre Sammlung zurück?
Das kommt ein bisschen darauf an, wo man sucht: Meine allerersten Bilderbücher liegen bis heute im Elternhaus auf dem Dachboden in einer Truhe. Meine Mutter bewahrt sie für mich auf.
Ein Stockwerk darunter, in meinem alten Kinderzimmer, steht noch das Bücherregal von früher, dort ist eine Auswahl von Kinder- und Jugendbüchern, die ich gern gelesen habe. Von Erich Kästner über Christine Nöstlinger bis hin zu Cornelia Funke.
Und dann gibt es die »eigentliche« Bibliothek, die seit meinem Auszug aus dem Elternhaus vor knapp zehn Jahren immer mit mir umgezogen ist und sich stetig wandelt. Ich sortiere Bücher aus, es kommen neue hinzu. Letzteres mehr als Ersteres. Aber auch darunter sind zwei Kinderbücher, die ich besitze, seit ich klein war. Eine Ausgabe von Leo Lionnis Frederick aus dem Jahr 1985 von meiner Mutter, die sie sehr früh an mich »abgetreten« hat, und meine erste Ausgabe von Das große Buch von Frosch und Kröte von Arnold Lobel, übersetzt von Tilde Michels, aus dem Jahr 1998. Es ist ein Taschenbuch, mittlerweile recht lädiert, und langsam lösen sich die Seiten aus der Klebebindung, aber ich würde es um nichts in der Welt hergeben. 18 DM hat es damals gekostet, der ideelle Wert ist ein anderer. Sowohl Frederick als auch Frosch und Kröte muss ich zum ersten Mal in den Händen gehalten haben, als ich etwa vier oder fünf Jahre alt war.
Welche Bücher liegen Ihnen besonders am Herzen?
Da kann ich direkt ansetzen, wo ich eben aufgehört habe: Das große Buch von Frosch und Kröte. Ich glaube, es gibt keine Geschichte, die mich schon so lange begleitet – nicht zuletzt, weil sie mich auch als Erwachsene immer wieder berührt. Eigentlich müsste es heißen: Geschichten, denn als Leserin begleite ich die besten Freunde Frosch und Kröte in kurzen Geschichten durch das ganze Jahr – herrlich illustriert vom Autor selbst. Es geht um Freundschaft (mehr noch: eine platonische Liebesbeziehung, würde ich sagen), Mut und Angst, um Ärger, Scham, Traurigkeit und die ganz normalen Alltäglichkeiten: Badeanzüge, verlorene Knöpfe, Albträume oder unter der Sonne schmelzende Eiskugeln im Hörnchen, zum Beispiel.
Als Leserin weiß ich nicht, wie alt Frosch und Kröte sind, sie haben keine anderen Namen als Frosch und Kröte – zwei äußerst vermenschlichte Tiere, die aufrecht gehen, Kleidung tragen und Post verschicken, sich abends in ihre Betten in ihren kleinen Häusern legen und ab und zu andere Tiere in der Nachbarschaft treffen.
Spannend finde ich bis heute, was mir erst vor einigen Jahren aufgefallen ist und worüber ich bis dahin nie nachgedacht hatte: Das Original, Frog and Toad Are Friends, des US-amerikanischen Kinderbuchautors und Illustrators Arnold Lobel erschien erstmals 1970 bei Harper & Row. Und Frog und Toad, die ja wie bereits erwähnt keine anderen Namen haben als eben Frog und Toad, lesen sich im englischsprachigen Original durch den genderneutralen Artikel the einfach als zwei gleichgeschlechtliche Freunde. In der deutschen Übersetzung wird (the) Toad aber ganz natürlich zu die Kröte – Kröte bekommt einen weiblichen Artikel, dementsprechend ändern sich auch ihre Pronomen, und die selbstverständliche Gleichgeschlechtlichkeit, die im Original besteht, geht mit der Übersetzung verloren.
Das ist natürlich schon allein auf einer linguistischen Ebene spannend, aber auch insofern, als Arnold Lobel sich 1974 – vier Jahre nach der Veröffentlichung – seiner Familie (Frau und Kindern) gegenüber als schwul outete und mit 54 an Herzproblemen in Zusammenhang mit seiner Aids-Erkrankung starb.
Heute gilt er laut Wikipedia als einer der bedeutendsten Kinderbuchautoren der USA des 20. Jahrhunderts, im deutschsprachigen Raum aber, habe ich den Eindruck, ist er weniger bekannt.
Lobel selbst stellte nie einen direkten Zusammenhang zwischen der Geschichte um Frosch und Kröte und seiner Sexualität her, äußerte sich aber 1977 in einem Interview mit einem Kinderbuchmagazin wie folgt: »You know, if an adult has an unhappy love affair, he writes about it. He exorcises it out of himself, perhaps, by writing a novel about it. Well, if I have an unhappy love affair, I have to somehow use all that pain and suffering but turn it into a work for children.«
2016 veröffentlichte The New Yorker einen Artikel zu dem Zusammenhang zwischen Frosch und Kröte und Lobels Biografie, dem ich das Zitat entnommen habe und den man hier nachlesen kann:
https://www.newyorker.com/books/page-turner/frog-and-toad-an-amphibious-celebration-of-same-sex-love.
Welches Buch hat Ihr Leben verändert?
Ich möchte nicht abstreiten, dass Bücher die Kraft haben können, Leben zu verändern, aber bei mir war und ist es eher so: Es gab Bücher, die mich besonders geprägt haben, persönlich oder in meiner Art, zu schreiben, es gab Bücher, die meine Ansicht auf Zustände oder Lebensrealitäten verändert haben, die nicht mit meinen eigenen Erfahrungen abzugleichen sind; es gab Bücher, von denen ich mich bis heute außerordentlich verstanden fühle. Und ich glaube, gerade Letzteres war und ist stets eine einschneidende Erfahrung: in bestimmten Büchern Teile meiner eigenen Realität oder meiner Erfahrungen im Leben wiederzufinden.
All diese Bücher haben mein Leben nicht verändert, aber sie haben meine Sicht auf Dinge, meinen Umgang mit anderen Menschen und nicht zuletzt mit mir selbst verändert, und immer wieder haben bestimmte Bücher eben auch mein eigenes Schreiben beeinflusst.
Ganz spontan denke ich da – in unsortierter Reihenfolge – z. B. an:
Herta Müller: Atemschaukel (2009) sowie Die blassen Herren mit den Mokkatassen (2005)
Sylvia Plath: Die Glasglocke (orig.: The Bell Jar, 1963) sowie die Gedichtsammlung Ariel (1965)
Mascha Kaléko: Das lyrische Stenogrammheft (1933)
Mithu M. Sanyal: Vergewaltigung (2016)
Claudia Rankine: Citizen (2014)
Heather Christle: Weinen (orig.: The Crying Book, 2019)
Jonathan Safran Foer: Extrem laut und unglaublich nah (orig.: Extremely Loud and Incredibly Close, 2005)
Welches Buch haben Sie zuletzt verschenkt?
Mehr ein dickes Magazin als ein Buch, aber: Heimspiele. Reiseführer durch die europäische Fußballkultur 2021, herausgegeben von der DFB-Kulturstiftung in Kooperation mit der Bundeszentrale für Politische Bildung – an meinen Bruder, der u. a. als Sportjournalist arbeitet.
Wer soll Ihre Bücher einmal bekommen?
Jemand, der etwas damit anfangen kann.
Wie sieht/sähe Ihre ideale Bibliothek aus?
Ich hätte vor allem einfach gern mehr Platz.